Ein Kunstprojekt für die Arbeiterkammer zu realisieren ist in der Tat keine leichte Aufgabe: es handelt sich ja hier nicht um einen „normalen“ Ausstellungsraum, keinen White Cube, keine kontemplative Betrachtungssituation, in der man sich auf die Kunstwerke konzentriert. Ganz im Gegenteil: Man steht hier in einem Nutzungszusammenhang, es ist ein Empfangsraum, Aufenthaltsraum, in dem der Kundenverkehr stattfindet. Mehr noch: Es ist ein Empfangsraum der Arbeiterkammer, in den Arbeiter und Angestellte mit Fragen, Sorgen, Problemstellungen kommen und nach Rat, nach einer Hilfestellung fragen.
Auch architektonisch hat es die Kunst hier nicht ganz leicht: die zu bespielende Wand befindet sich hinter massiven Pfeilern und den Schaltern, nicht in einem geschützten musealen Ambiente, wo sie ein Eigenleben führen kann. Wir befinden uns also in einem Raum der „Halbaufmerksamkeit“ (Misha Stroj), in der Kunst eher ein Beiwerk ist, eine Nebensache (ein parergon, wie Derrida sagen würde). Keiner der normalen Besucher rechnet hier mit Kunst, hat die Zeit oder den Kopf, sich intensiver darauf einzulassen. Und doch ist es ein Raum, in dem man sitzt, wartet, sich Gedanken macht, und die wo Kunst in einzelnen Momenten womöglich ganz gute Chancen hat, dass einige Besucher trotzdem einen ganz persönlichen und spezifischen Zugang finden können.
Wie reagiert nun Misha Stroj auf diese Situation? Er nimmt genau diese Frage der „Halbaufmerksamkeit“ zum Ausgangspunkt seines Arrangements: Die sechs zur Verfügung stehenden Wände hat Stroj regelmäßig mit je neun relativ kleinformatigen Reliefs – er spricht von „Diagrammen“ – verteilt. Es ist eine unhierarchische Anordnung, keine Schwerpunktsetzungen, keine privilegierten Sichtachsen; die BesucherInnen können an jedem Punkt einsteigen. Um diesen Einstieg gewissermaßen zu erleichtern hat Misha Stroj in jedes der Reliefs eine Beschriftung, ein Täfelchen integriert. Es ist, als wollte Stroj dem Verlangen der meisten Besucher, zuerst den Titel des Bildes zu lesen, bevor man auf das Bild selbst schaut, zuvor kommen, und hat deshalb das Täfelchen gleich ins Bild gesetzt. Auf diesen Täfelchen stehen nun ganz unterschiedliche Sätze, Sinnsprüche, Aphorismen – „one liner“ –, die zuweilen wie Volksweisheiten daherkommen, einige sind rätselhaft, andere dagegen sehr direkt, unmittelbar emotional und existentiell. Die Besucher sitzen also da und lesen gedankenverloren eines der Schildchen; womöglich beginnt es in einigen von ihnen zu wirken, sie schauen nochmals hin, stehen auf und überlegen, wie der Spruch mit den Formen zusammenhängt; vielleicht schauen sie sich ein zweites, drittes Relief an, beginnen Verbindungen zu knüpfen, Sinnzusammenhänge zu erschließen; vielleicht beginnen sie, die künstlerischen Formen auf ihre eigene Situation zu beziehen – und an einem unbestimmten Zeitpunkt hören sie wieder auf, vielleicht, weil es ihnen zu absurd vorkommt, vielleicht, weil sie einfach aufgerufen werden oder anderweitig unterbrochen werden.
Misha Stroj nimmt diese Situation einer „Halbaufmerksamkeit“ sehr ernst. Man könnte sagen, dass er sie zum Ausgangspunkt einer sehr grundlegenden Reflexion über die Verstrickung der Kunst in alltägliche Handlungszusammenhänge nimmt. Dies zeigt bereits der sehr komplexe Arbeitsprozess, der zu diesen 54 Reliefs geführt hat. Als Stroj den Auftrag im Herbst 2008 erhalten hat, begann er zunächst mit einer langwierigen Recherche-Phase hier in der Bibliothek der Arbeitskammer. Er begann damit, bestimmte Suchbegriffe einzugeben, wie etwa „Krise“, „Depression“, „Sorge“, „Hoffnung“; er las Bücher dazu, sozialhistorische ebenso wie literarische und kunsthistorische Bücher, die ihren Weg hier in die Bibliothek gefunden haben. Nach und nach kristallisierte sich der Begriff der „Ermutigung“ als ein Kristallisationspunkt heraus, der, wenn ich so sagen darf, eine Brücke zwischen der Aufgabe der Arbeiterkammer und der Kunst schlägt. Stroj wählte also nach einem längeren Recherche-Prozess ca. 20 Bücher aus, aus denen er verschiedene Sätze, Wendungen Appelle destillierte und die gewissermaßen den Leitfaden für den weiteren künstlerischen Arbeitsprozess bildeten.
Im Frühjahr dieses Jahres trat Stroj dann eine ausgedehnte Reise nach Südamerika an, wo er seine Recherchen mit konkreten Erfahrungen konfrontierte – insbesondere in Kollaborationen mit Arbeitern und deren unterschiedlichen Arbeitsweisen vor Ort. Gleichzeitig begann er sie mit unterschiedlichen formalen Problemstellungen und theoretischen Ansprüchen der (neo)avantgardistischen Kunst quer zu lesen, Verbindungen herzustellen, ein sehr kompliziertes Netzwerk zu erstellen: Wenn Sie aufmerksam die einzelnen Reliefwände abgehen, wird Ihnen die fast enzyklopädische Zusammenstellung unterschiedlichster avantgardistischer Arbeitsweisen und theoretischer Entwürfe auffallen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Allein in der ersten Sektion mit den ersten 9 Reliefs sehen sie Anspielungen auf rationalistische Architektur, auf die Konzeption des Readymade, aber auch auf expressionistische Arbeiter-Plastik einer Käte Kollwitz, auf Gordon Matta-Clarks Zeichnungen mit ausgeschnittenen Formen, Eva Hesses herabhängende Materialien, verschiedene Abdrucktechniken und Medien bis hin zur Fotografie und Malerei – sie sehen schon aus diesen wenigen Bemerkungen, dass Misha Stroj eine Art Grammatik unterschiedlicher Formensprachen und Arbeitsweisen der modernen Kunst entwickelt, eine „fragmentierte Totalität“ gewissermaßen.